Rhodos Journal


Bibel und kirchliche Tradition gehören zusammen

Wenn evangelische Christen von außen auf die orthodoxe Kirche schauen, so begegnen ihnen eine Fülle von Glaubensaussagen und gottesdienstlichen Gebräuchen, die ihnen sehr fremd erscheinen. Woher mag all dies Fremde kommen? In der Bibel findet sich davon nur wenig.

Aber für die orthodoxen Christen ist nicht die Heilige Schrift allein Quelle des Glaubens, sondern zur Bibel kommt hinzu die kirchliche Tradition und das gottesdienstliche Leben. Die griechisch-orthodoxe Kirche sieht sich selbst in ungebrochener Kontinuität mit den allerersten christlichen Gemeinden: Das ist ihre eigentliche Basis. Für evangelische Christen, an das reformatorische "sola scriptura" ("allein die Schrift") gewöhnt, mag das auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Aber schauen wir genauer hin:

Wenn wir zurückgehen zu den Anfängen des christlichen Glaubens, so sehen wir, dass das Neue Testament inmitten der bereits existierenden Gemeinden entstanden ist: Für sie wurden die Worte und Taten Jesu aufgezeichnet und allmählich zu den Evangelien zusammen gefügt, und einige der zahlreichen Apostelbriefe wurden zusammen mit der Apostelgeschichte und der Offenbarung des Johannes allmählich für "kanonisch" erklärt, d.h. als zuverlässige Quellen des Glaubens anerkannt. Wer entschied, welche der zahlreichen Evangelien ins Neue Testament aufgenommen werden sollten und welche der vielen kursierenden Apostelbriefe? Die Kirche, genau gesprochen die Synoden, die mancherorts zusammen traten: Sie mußten entscheiden, welche Texte in den christlichen Gottesdiensten vorgelesen werden durften, und es dauerte etwa drei Jahrhunderte, bis endlich Einmütigkeit über den Umfang des Neuen Testamentes herrschte. Insofern betrachten die orthodoxen Christen mit Recht die Kirche als den Mutterschoß der Heiligen Schrift.

Die kirchliche Tradition erwies sich auch als Hilfe bei der Auslegung der Heiligen Schrift. Woher sonst wüßten wir zum Beispiel, dass Andronikos und Junias, denen Paulus im Römerbrief (16,7) zugesteht, sie seien schon vor ihm Apostel gewesen, keine Brüder waren, sondern ein Ehepaar, und darum der zweite Name "Junia" heißen muß? Älter als die älteste Handschrift des Neuen Testamentes ist nämlich eine Predigt des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos, in der er über dieses Ehepaar spricht und bezeugt, dass in frühester Zeit im Römerbrief wirklich der Name Junia stand. Also wurde erst in späterer Zeit aus Junia ein Junias gemacht - vermutlich sollte die Tatsache, daß eine Frau den Titel Apostolin getragen hat, aus der Welt geschafft werden.

Noch abenteuerlicher ist die Geschichte von der Ehebrecherin im Johannes-Evangelium (8,2-11), eine Perikope, die für uns ins Herz des Neuen Testamentes gehört. Es gab diesen Bericht schon in früher Zeit, aber er fand zunächst keine Aufnahme in ein Evangelium, so anstößig war die Geschichte in den ersten christlichen Jahrhunderten. Denn Ehebruch gehörte zusammen mit Mord und Glaubensabfall zu den schwersten Sünden überhaupt, für die man ein Leben lang Kirchenbuße tun musste. Und da soll Jesus mit dem einen Satz: "Geh hin und sündige von nun an nicht mehr" der Sünderin Vergebung zugesprochen haben? Untergräbt ein solcher Satz nicht die Kirchenzucht, die die Gläubigen danach eifern lässt, "Gemeinschaft der Heiligen" zu sein? Aber diese Geschichte ließ sich nicht in Vergessenheit bringen, immer wieder tauchte sie in Handschriften des Neuen Testamentes auf, bis sie endlich im 8. Jarhundert ihren endgültigen Platz im Johannesevangelium erhielt, wiederum durch die Entscheidung einer Synode.

Schrift und Tradition enthalten für orthodoxe Christen keine Gegensätze, sondern bezeugen gemeinsam Gottes Offenbarung an uns Menschen, sie korrigieren und bestätigen einander. Beide sind sie notwendig, um die Kirche auf der Spur des Evangeliums zu halten.

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