Rhodos Journal


Die Heiligen des Himmels sind ganz nah

Wer eine orthodoxe Kirche betritt, wird zumeist an den Wänden des Kirchenschiffs eine große Zahl von ernst dreinschauenden Menschen erblicken, Männern und Frauen. Manche sind stets in der gleichen Szene abgebildet, wie etwa der heilige Georg als Drachentöter, andere sind an bestimmten Zeichen zu erkennen, wie etwa Konstantin und Helena mit dem Kreuz oder die heilige Paraskevi, die oft ein paar Augen in ihrer Hand trägt. Oder sie tragen in ihrem Heiligenschein ihren Namen.

Die dort ihr Bild an der Kirchenwand bekommen haben, sind "Heilige", Menschen also, die in besonders vorbildlicher Weise ihren Glauben gelebt haben. Es sind Menschen, auf die die Gläubigen aufmerksam geworden sind, und die sie als Weggefährten, große Brüder und Schwestern auf dem Weg in die Ewigkeit erleben. Wer eine Kirche betritt, betritt einen Raum, in dem in gewisser Weise die Zeit aufgehoben ist: Die uns im Glauben vorangegangen sind, sind in diesem Raum gegenwärtig, sie strecken uns hilfreich ihre Hände entgegen, bieten uns ihr Weggeleit an.

Es sind so viele, weil jedes Menschen Weg ein anderer ist. Manchmal mag es schon die Ikone, das Fresko selbst sein, das einen Funken überspringen lässt. Vielleicht ist es auch der Heilige, dessen Namen ich trage. Oder wer sich die Mühe macht, die Lebensgeschichten der Heiligen kennen zu lernen, wird irgendwann einmal das Gefühl haben: Ja, neben diesen Menschen möchte ich mich stellen; wenn es möglich ist, soll er mein Bruder, soll sie meine Schwester sein.

Niemand glaubt ganz für sich allein. Unser Glaube hat nicht in uns allein seine Quelle, andere Menschen haben ihn uns nahe gebracht. Das können die Eltern sein, ein bestimmter Pfarrer oder eine bestimmte Religionslehrerin, eine Kindergottesdiensthelferin, jemand in der Jugengruppe, in Bibelrüstzeiten, die Brüder von Taizé. Wir stehen aber auch mit unserem Glauben auf den Schultern vieler, deren Namen uns nicht vertraut sind, ohne die aber dennoch der Glaube auf seinem unerhört langen Weg durch die Länder und Zeiten nicht unversehrt erhalten geblieben wäre.

Vielleicht fallen uns zuerst die Märtyrer ein, deren Blut, so sagte man, der Same des Evangeliums war: Dass da jemand bereit war, für seinen Glauben zu sterben, das beeindruckte viele Menschen, die recht und schlecht mit ihren althergebrachten Hausgöttern lebten. Oder jene Menschen, die alles hinter sich gelassen haben, um als Boten des Evangeliums bis an die Grenzen der damaligen Welt zu ziehen; nach der Tradition soll der Apostel Thomas bis nach Indien, der Apostel Matthias nach Trier und die Geschwister Martha, Maria und Lazarus bis nach Marseille gekommen sein. Vielleicht denken wir an Franziskus, an Elisabeth von Thüringen, die die Hinwendung des Evangeliums zu den Armen wieder neu gelebt haben. Oder auch an die Reformatoren, die das Wort der Schrift wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit brachten.

Sie alle sind die "Gemeinschaft der Heiligen", von denen wir im Glaubensbekenntnis sprechen, und sie sind nicht nur eine Idee, ein längst vergangener Traum. Vielmehr sind sie lebendig in unserer Mitte. Sie treten heraus aus dem gemalten oder gedachten Bild, stellen sich uns zur Seite, und bieten uns ihre Glaubenserfahrung als Weggeleit an.

Und für einen Augenblick dürfen wir uns schon fühlen, als seien Raum und Zeit vergangen, und als lebten wir schon alle miteinander in Gottes Ewigkeit.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis


[ HOME ]